Der folgende Brief wurde heute im Namen mehrerer Gruppen (s.u.) an das Orgateam des Wir-haben-es-satt-Kongresses verschickt.
Liebe Organisator*innen des Wir-haben-es-satt-Kongresses,
wir finden die Idee toll, im Rahmen eines Kongresses mit verschiedenen Akteuren und Aktiven der großen Bewegung für eine Agrarwende zu diskutieren und wir freuen uns auf den Austausch und die Vernetzung an dem Wochenende. Allerdings sind wir von dem Programm des Kongresses nicht begeistert – weder auf der repräsentativen noch auf der inhaltlichen Ebene.
Wir finden es unverständlich, dass Graswurzelgruppen und Bürger*inneninitiativen in den Plenumsveranstaltungen fast gar nicht und in den Arbeitsgruppen auch nur vereinzelt auftauchen. Dieser wichtige Teil der Bewegung ist aus unserer Sicht dadurch auf dem Kongress stark unterrepräsentiert. Es wurden hauptsächlich Sprecher*innen großer NGOs eingeladen und einigen Vertreter*innen der gegenwärtigen Regierung und Agrarindustrie sehr viel Raum geboten. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass eine Bewegung, die grundsätzliche Systemveränderungen fordert, an Potenzial verliert. Es scheint dann so, als zögen letztlich alle Akteure an einem Strang, wodurch die hier stark wirkenden Machtverhältnisse unsichtbar werden. Die Position von Regierung, Bauernverband und Co. ist hinreichend klar und wird auf zahlreichen Wegen verbreitet und diskutiert. Einer Bewegung für eine „Agrarwende“, die wirklich Veränderung will, müsste es darum gehen, eigene Ziele und Strategien zu entwickeln. Das gelingt der Wir-haben-es-satt-Bewegung in unseren Augen zur Zeit nur sehr begrenzt.
Inhaltlich finden wir es problematisch, dass im Programm zentrale Fragen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft kaum explizit benannt werden.
Dazu gehört erstens die Frage nach den grundlegenden Wirtschafts- und Politikstrukturen, in denen wir leben wollen und in denen sich eine bessere Landwirtschaft verwirklichen ließe. Zu unserer Verwunderung kommen so wichtige Konzepte wie Wachstums- und Herrschaftskritik, Degrowth, Alternativen zum Kapitalismus nicht vor.
Zweitens fehlt uns eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Tierhaltung, die nicht schon voraussetzt, dass kleinbäuerliche und ökologische Betriebe eine artgerechte und ethisch vertretbare Nutzung von Tieren gewährleisten. Die vegane Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsposition taucht als Option und Diskussionsgegenstand schlicht nicht auf. Stattdessen wird die einzige von zahlreichen Arbeitsgruppen, die sich mit den Lebensbedingungen der Nutztiere beschäftigt, von drei Personen moderiert, die lediglich für einen Tierschutzansatz stehen und an eine „tierleidfreie Zukunft für unsere Nutztiere“ glauben, welche der AG-Beschreibung zufolge schon durch eine bessere Kennzeichnung von Tierprodukten im Handel erreicht werden könne.
Drittens sehen wir die Frage nach den Klimaauswirkungen der Landwirtschaft zu wenig berücksichtigt. Auch hier spielt die Tierhaltung eine wichtige Rolle, ist sie doch für den Löwenanteil der Emissionen aus der Landwirtschaft verantwortlich. Eine Umstellung der Tierhaltung auf Bioproduktion bei gleichbleibender Menge wäre nicht nur unmöglich, sondern würde auch die Probleme kaum verringern, da z.B. bei extensiver Tierhaltung der Land- und Ressourcenverbrauch immens ist und ebenfalls Klimaauswirkungen mit sich bringt. Anstatt aber entsprechend die Frage zu diskutieren, ob eine Umstellung der Landwirtschaft auf verstärkte Produktion pflanzlicher Lebensmittel und parallel eine Umstellung der Ernährung nötig wäre, geht es in vielen Formaten allein um die wirtschaftliche Zukunft von Fleisch- und Milcherzeuger*innen.
Obgleich auf dem Wir-haben-es-satt-Kongress auch einige Vertreter*innen vielversprechender Initiativen zu Wort kommen und in vielen Formaten wichtige Fragen angesprochen werden, fühlen wir uns aus den genannten konzeptionellen Gründen von dem Kongressprogramm nicht sehr angesprochen. Wir fragen uns, welches Potenzial für Veränderung dieser Kongress tatsächlich mobilisieren kann – und ob er nicht stattdessen Gefahr läuft, durch Bewerbung von Nischenmodellen und kleinen Reformen die gegenwärtige Landwirtschaftspolitik zu stabilisieren. Aus unserer Sicht werden wir einer so dringenden wirklichen „Agrarwende“ nur näher kommen, wenn wir einen offeneren und hierarchieärmeren Diskurs führen, in dem die Bewegung in ihrer ganzen Vielfalt berücksichtigt wird, und wenn wir ganz direkt die zentralen Fragen diskutieren, die die Grundausrichtung unserer (Land-)Wirtschaft betreffen.
Wir würden uns über eine Antwort freuen.
Animal Climate Action, Bürgerinitiative Schweinewind, Kampagne gegen Tierfabriken Niedersachsen, Tierfabriken-Widerstand
Wir haben eine Antwort von Jochen Fritz bekommen, die wir hier ebenfalls veröffentlichen:
Liebe Mitglieder von Animal Climate Action, Bürgerinitiative Schweinewind, Kampagne gegen Tierfabriken Niedersachsen, Tierfabriken-Widerstand,
danke für euren umfangreichen Brief an das Organisationsteam des „Wir haben es satt!“-Kongresses. Wir nehmen eure Anmerkungen sehr ernst! Wir haben versucht, ein sehr breites Programm aufzustellen, das viel Platz für die von euch angesprochenen Themen Klimaschutz, Tierrechte und Umstellung der Ernährung auf pflanzliche Produkte lässt. Über die Ausrichtung eines Kongresses kann man unterschiedlicher Meinung sein. Auch wir haben sehr lange diskutiert und uns einerseits für Format mit Beteiligungsmöglichkeiten für viele und andererseits für Inputs von bekannteren Personen entschieden. So ist das Programm geworden, wie es jetzt ist und ich denke, dass thematisch für alle aus der Bewegung was dabei ist – und der Kongress die Breite der Bewegung abbildet.
Am Ende lebt ein Kongress davon, welche Menschen sich daran beteiligen und wie sie miteinander diskutieren. Dass wir vom Organisationsteam keine Basisleute eingeladen hätten, können wir nicht nachvollziehen. Es sind Bäuerinnen und Bauern wie Johanna Böse-Hartje und Matthias Stührwoldt, Marianne Ohlhoff und Mariam Diaby dabei oder bspw. auch die Aktivistin Julia BarTal. Einer eurer Unterzeichner hat übrigens auch auf der letzten Demo gesprochen, weil uns wichtig ist, BasisaktivistInnen Raum zu geben. Wir versuchen immer ein Auge draufzuhaben, dass wir ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Basisinitiativen und etablierten Organisationen haben.
Aber: Wenn man die Spitzen der NGOs nicht einlädt, kann man seine Forderung nicht mit ihnen diskutieren. Dass wir deswegen Gefahr laufen, eine Werbeveranstaltung für die Regierung und die Agrarindustrie zu werden, weil wir sie zur Diskussion bitten, teile ich nicht.
Zugegebener Weise ist das Thema vegane Lebensweise kein zentraler Strang wie beim letzten Kongress. Dies hat bestimmt auch mit dem Ausscheiden der Albert-Schweizer-Stiftung aus der Kampagne „Meine Landwirtschaft“ zu tun, was wir sehr bedauern. Aber ja, aktuell umtreibt uns die existenzbedrohende Situation auf den Höfen und die zunehmende Konzentration der Agrarkonzerne stärker als vegane Themen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass die Fragestellungen, die ihr zu Recht angesprochen habt und die natürlich die zentralen Zukunftsthemen sind, auf dem Kongress viel Raum haben werden. Insbesondere in den Arbeitsgruppen und im Open Space sowie in den Plenardiskussionen werden diese Themen wichtig sein. Die Arbeitsgruppen sind z. B. fast alle von der Bewegung an uns herangetragen worden und wurden nicht von uns initiiert.
Wir freuen uns auf euer Kommen und begrüßen es ausdrücklich, wenn ihr euch beim Kongress einbringt.
Beste Grüße
Jochen Fritz
Kampagne Meine Landwirtschaft/ Wir haben es satt!
Leitung